Die Stadtschulsprecherinnen im Interview mit der HNA.
Zukunftssorgen, Rechtsruck, Nachwehen von Corona: Kassels Schülervertretung über aktuelle Probleme und Forderungen junger Menschen
Von ihrem Arbeitszimmer aus können Kepiaya Prabaharan, Leonie Schlicht und Merve Göksu direkt auf die Fulda schauen. Auf der anderen Seite liegen die Stadtteile Wesertor und Nord-Holland – wo sich viele Probleme ballen, die auch die drei Schülerinnen beschäftigen. Beim Gespräch im Haus der Jugend erzählen sie, wo jungen Menschen der Schuh drückt und was sie in ihrer einjährigen Amtszeit im Stadtschülerrat verändern wollen.
Mehr als ein Viertel der Acht- bis 17-Jährigen ist laut einer neuen Studie unzufrieden mit dem Leben. Wie unzufrieden sind Kassels Schüler?
Prabaharan: Viele Schülerinnen und Schüler fühlen sich von der Gesellschaft im Stich gelassen. Krieg, Inflation, Klimawandel – es gibt große Ängste in unserer Generation. Doch darüber wird kaum gesprochen. Stattdessen müssen Schüler teils immer noch Lernrückstände aus der Corona-Zeit aufholen. Damit lässt man uns allein.
Inwiefern?
Prabaharan: Man gibt uns nicht genug Zeit, um Verpasstes nachzuholen. Homeschooling war nicht dasselbe wie der Unterricht im Klassenraum. Und auch den Lehrkräften wird durch das Kultusministerium in Wiesbaden Druck gemacht. Die Defizite aus der Pandemie spielen in den Lehrplänen scheinbar keine Rolle.
Schlicht: Auch psychisch war Corona sehr belastend. Nicht nur der Lockdown, auch die ganzen Einschränkungen im Sozialleben.
Göksu: Und nicht alle Schüler haben einen Laptop oder ein Tablet. Ich musste mir beim Lernen einen Bildschirm mit meinen Brüdern teilen. Sozial schwächere Familien hat Corona viel stärker getroffen.
Stichwort soziale Ungleichheit: Wir sind hier im Haus der Jugend, es liegt in der Unterneustadt und hat erst vergangenes Jahr einen neuen Vorplatz bekommen. Werden Schüler aus anderen Vierteln vergessen?
Prabaharan: Das Haus der Jugend ist mit seiner zentralen Lage für alle jungen Menschen in Kassel da. Aber leider ist es so, dass die Startchancen von Schülern von Viertel zu Viertel sehr unterschiedlich sind. Und von Schule zu Schule. Das kritisieren wir.
Welche Unterschiede sind das?
Göksu: Es fängt bei der Ausstattung der Schulen an. Die Mittel werden durch die Stadt sehr ungleich vergeben. Es dauert teils Jahre, bis zugige Fenster saniert werden. Ich kenne Schulen, in denen es erst seit 2024 WLAN gibt.
Was sind Ihre Hauptforderungen an die Politik?
Prabaharan: Zunächst einmal geht es darum, dass man uns zuhört. Sprecht mit uns, nicht über uns!
Werden Sie nicht ernst genommen?
Schlicht: Im Moment ist viel von einem Rechtsruck der Jugend die Rede. Aber das hat viel mit Unwissenheit zu tun. Wer in Hessen die Schule nach der neunten Klasse abbricht, hat nie etwas vom Holocaust gehört. Denn im Geschichtsunterricht kommt das erst in der zehnten dran.
Prabaharan: Ich erlebe in letzter Zeit, dass Rassismus und Diskriminierung zunehmen. Das hat auch viel mit Social Media zu tun, wo es Vorurteile und Propaganda unter jungen Menschen leicht haben. Aber die Jugend rückt nicht nach rechts, sie hat Ängste.
Mit Blick auf Social Media wird derzeit ein Handyverbot an Schulen diskutiert.
Prabaharan: Das kann keine Lösung sein. Die Technologie ist nicht das Problem, sondern wie wir sie nutzen. Zum Beispiel auch Künstliche Intelligenz. Statt über Tricksereien bei Hausaufgaben zu reden, sollte der richtige Umgang mit KI gelehrt werden.
Was muss noch passieren?
Göksu: Ob für Digitalisierung oder Aufklärung bei Rechtsextremismus – es braucht mehr Freiraum in der Schule. Eine Doppelstunde PoWi im Jahr reicht da nicht.
Hintergrund: Über den Stadtschülerrat
Kepiaya Prabaharan wurde kürzlich zur Stadtschulsprecherin gewählt. Die 18-Jährige besucht das Goethe-Gymnasium, so wie Stellvertreterin Merve Göksu (18). Vize-Sprecherin ist Leonie Schlicht (16), die an die Jacob-Grimm-Schule geht. Der Stadtschüler*innenrat (SSR) vertritt die Interessen von rund 22 000 Schülern in Kassel. Das Gremium berät die Schülervertretungen an den einzelnen Schulen – unter anderem bei der Zusammenarbeit mit der Schulleitung. Auch gegenüber der Stadt setzt er sich für die Belange der Schülerschaft ein. Kontakt zum SSR per Mail (info@ssr-ks.de) oder Instagram (@ssr.kassel).
(c) HNA, 2024: https://www.hna.de/kassel/sprecht-mit-uns-nicht-ueber-uns-93432358.html